H. König u.a. (Hrsg.): Europa

König, Helmut; Julia Schmidt, Manfred Sicking (Hrsg.): Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität. Bielefeld 2008 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-89942-723-3 167 S.

Duchardt, Heinz; Malgorzata Morawiec, Wolfgang Schmale, Winfried Schulze (Hrsg.): Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. Göttingen 2006 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 3-525-30154-5; 3-525-30154-5; 978-3-525-30158-6 338 S., 336 S., 233 S

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Immer wieder ist vom europäischen Identitätsdefizit und manchmal vom europäischen Geschichtsdefizit die Rede und zuweilen auch davon, das beides doch zusammenhänge. Für Historiker stellt sich die Frage, wie sie mit dieser Thematik umgehen, ohne dass sie sich in den Dienst unwissenschaftlicher Propagierung normativer Bewusstseinsinhalte begeben, die aus staatsbürgerlicher Warte als erwünscht und notwendig erachtet werden. Mit anderen Worten, dass man jetzt historische Sinnstiftung für die supranationale Gemeinschaft betreiben soll, wie man sie zuvor für nationale Gemeinschaften geleistet hat.

Seit kurzem liegen die Beiträge einer Vortragsreihe vor, die an einem europäischen Symbolort, in Aachen, im vergangenen Jahr zu dem etwas schwächeren Symboljubiläum «50 Jahre Römische Verträge» veranstaltet wurde und dem «Europäischen Gedächtnis» gewidmet war. Die meisten Beiträger sind sich der von Etienne François (Berlin) direkt angesprochenen Problematik bewusst, dass Historiker, die sich in diesem Bereich bewegen, «gleichzeitig Zeugen und Akteure» sind. Einzig Hans-Ulrich Wehler (ehem. Bielefeld) tritt als engagierter Akteur auf und äussert sich einmal mehr auf unkritische Weise kritisch – und unter Berufung auf das antike Erbe – zur EU-Mitgliedschaft der Türkei.

François dagegen verhält sich ganz als Zeuge, auch wenn man herausspürt, dass gewisse Befunde ihm willkommener sind als andere. Gestützt auf sozialwissenschaftliche Studien stellt er fest, dass in den herrschenden Geschichtsbildern der nationale Bezugsrahmen weiterhin Vorrang hat, dass sich aber sachte doch auch eine gesamteuropäische Gedächtniskultur herausbildet. Diese sei das Produkt nicht einer Propagierung von oben (Brüssel), sondern eines indirekten Annäherungsprozesses von unten als Folge der zunehmenden Verflechtung der europäischen Länder und Kulturen. Es gibt aber nicht nur Entfaltung und Intensivierung, sondern auch Wandel in der Akzentsetzung. So habe, wie man aus der Rangierung von Persönlichkeiten ablesen könne, in der Zuschreibung von Europäischem das christliche Abendland mit seiner karolingisch-katholischen Ausprä gung zurücktreten müssen zu Gunsten eines Europa der Renaissance und der Reformation, des Aufbruchs und der Entdeckungen.

Der Germanist Adolf Muschg (Zürich) äussert sich in seinem schweizerischeuropäischen Beitrag halb deskriptiv, halb normativ. Beschreibend hält er fest, dass man in den 1950er Jahren dem «bodenlosen Europa» der wirtschafts- und sicherheitspolitischen Kooperation «ein kulturelles Fundament» einzuziehen versucht und dabei auf die karolingische Reminiszenz zurückgegriffen habe. Zugleich benennt er aber auch, was den Europäern «heilig» sei – oder sein sollte: vor allem der zivilisierte Umgang mit dem Anderen. Dem in diesem Band wiederholt zitierten Diktum Jacques Delors’, dass man Europa eine Seele geben müsse, hält er entgegen, dass diese Seele bereits vorhanden sei und im Stoff geschichtlicher und kultureller Differenzen sitze.

Helmut König (Aachen), erster Herausgeber dieses Bandes, führt in überzeugender Weise aus, worin die wesentlichen Unterschiede zwischen Gedächtnis und Geschichte bestehen, die beiden Arten des Umgangs mit Vergangenheit spielt er aber nicht gegeneinander aus. Ausgehend von Max Weber versteht er die Nation als Erinnerungs- und Gedächtnisgemeinschaft, von der er sagt, dass sie parteiisch, apologetisch, von Gegenwartsinteressen geleitet, Vergangenheit und Gegenwart eins machend, unsystematisch und unüberprüfbar sei und sein dürfe. Die Geschichte dagegen ist so ziemlich das Gegenteil davon und wahrt darum auch Distanz und stellt zugleich auf andere Weise unbequeme Nähe her. König schliesst sich Peter Burke an, der den Historiker mit dem englischen Schuldeneintreiber vergleicht. Pflicht und wichtigste Aufgabe des Remembrancer sei es, «die andern an das zu erinnern, was sie selbst gerne vergessen wollten». Das Gemeinschaftsgedächtnis und damit auch die kollektive «Seele» sind aber weiterhin auf der nationalen Ebene angesiedelt. Diesem auch auf supranationaler Ebene Leben einzugeben, könne, so König, nicht Aufgabe der Historiker sein.

Diese Aufsatzsammlung kommt nicht darum heraus, sich mit der in den letzten Jahren stark angewachsenen Bedeutung des Geschichtlichen zu befassen und ist zugleich selbst ein – immerhin reflektierter – Teil dieses Phänomens. Gleiches lässt sich von einem anderen, vorausgegangenen Werk sagen. Verteilt auf drei Bände äussern sich Historiker aus sechs verschiedenen europäischen Ländern zu 36 europäischen Historikern, die sich ihrerseits zu Europa geäussert haben, darunter drei Schweizer: Jacob Burckhardt, Gonzague de Reynold und Denis de Rougemont.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wird an Hand ausgewählter Beispiele der umfassende Europa-Diskurs aufgezeigt und damit ein Einblick in die Europa-Tradierung vermittelt, die mit wechselnder Intensität und unterschiedlichen mentalen Konnotationen stattgefunden hat. Malgorzata Morawiec, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Mainzer Institut für Europäische Geschichte und Mitherausgeberin dieser Aufsatzsammlung, macht in ihrem zusammenfassenden Schlusswort die unterschiedlichen Verständnisse des gemeinsamen Gegenstandes sichtbar. Diese Anthologie verfolgt keine europapädagogischen Ziele. Hingegen kann man in Übereinstimmung mit allen in diesen Bänden vorgestellten «Europa-Historikern» sagen, dass – frei nach Descartes – das Nachdenken über das europäische Sein eine wichtige Voraussetzung für dieses Sein ist. Insofern wirken Europa-Historiker, ob sie eher analytisch oder eher pädagogisierend Europa thematisieren und dabei auch und gerade herrschende Unterschiede ansprechen, stets am Webstuhl der europäischen Gemeinsamkeiten.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität. Hg. von Helmut König, Julia Schmidt, Manfred Sicking. Bielefeld, transcript verlag, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 493-494.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 493-494.

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